Memorial by Pina and Via Lewandowsky

Eine belebte Vergangenheit...

Pina und Via Lewandowsky
„Anomalie normaler Dauer – Am Ende eines Raumes
(Gebeinkiste und Spruchkammer)“
Paraffin, Holzkiste mit Birkenfurnier, 300 x 110 x 102 cm

Im Oktober 1992 stifteten die Künstler Via Lewandowsky und Freie Praxis und Pina Lewandowsky dem Museum für Sepulkralkultur ihren Documenta-Beitrag.

Das Kunstwerk

Das künstlerische Konzept „Anomalie normaler Dauer“, das im Rahmen der Documenta IX entstand, umfasste drei Themenbereiche:
1. Bildtafeln mit medizinischen Abbildungen „Neigung zu ungehemmter Löslichkeit“, die im Treppenhaus des Fridericianum gezeigt wurden
2. eine Installation am Staatstheater mit dem Titel „Vermehrung von Täuschung (Rauchfahne)“
3. und die Plastik „Am Ende eines Raumes (Gebeinkiste und Spruchkammer)“ am Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs am Hang zur Karlsaue

Das Werk „Am Ende eines Raumes (Gebeinkiste und Spruchkammer)“ besteht aus einer 3 m langen, 1,10 m hohen und 1,02 m breiten, mit Birkenfurnier beschichteten Holzkiste. Auf einem Zwischenboden in halber Höhe ruht eine überlebensgroße Figur aus Paraffin. Sie ist ein Abguss der Skulptur „Der Gefallene“ von Hans Sautter. Während der Documenta IX verbarg die Gebeinkiste des Künstler*innenduos Lewandowsky die Kalkstein-Figur Sautters. Zu sehen war allein die Abformung in Wachs. Das Wachs erinnert in diesem Zusammenhang vor allem an die Unzuverlässigkeit des menschlichen Erinnerungsvermögens. Im Gegenteil zum festen, unveränderlichen Stein des originals verändert sich das Wachs ständig sich durch äußere Einflüsse. Auch die vielen wechselhaften Ereignisse im Zusammenhang mit der Gedenkstätte sind immer mehr in Vergessenheit geraten und wurden politisch mal von einer, mal von der anderen Seite betrachtet. Doch zunächst zurück zum Beginn der Ereignisse und zur Geschichte des originalen Gefallenendenkmals Hans Sautters.

Das Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs

Der Bildhauer und Professor an der Staatlichen Kunstgewerbeschule Kassel, Hans Sautter, erhielt nach dem Ersten Weltkrieg den Auftrag für die Gestaltung eines Ehrenmals für die Gefallenen. Hierzu gestaltete er den ehemaligen barocken Gartensaal der Treppenanlage am nördlichen Hang der Karlsaue um. Dafür wurde das einstmals verwilderte Grundstück, das wie eine Verlängerung der denkmalgeschützten Treppenstraße Innenstadt und Karlsaue verband, freigelegt. Im Mittelpunkt der Anlage befindet sich noch heute die Kalkstein-Skulptur „Der Gefallene“. Sie liegt gerahmt von einem vertieft in den Fußboden absetzten Spiegel inmitten des Raumes. Dargestellt ist ein athletischer junger Mann, der nackt in eine Decke eingeschlagen ist. Er liegt auf dem Rücken. Sein Gesicht ist starr auf das Gewölbe gerichtet. Die Decke ist im Bereich des Oberkörpers einseitig zurückgeschlagen. Auch die Füße liegen bloß. Nach der Einweihung 1922 führte diese Darstellungsform in Kassel zu Irritationen. Das Denkmal hat von da an eine ca. 70jährige Geschichte voller politischer Vereinnahmung und Beschimpfung vor sich. Die Bevölkerung sah in der Figur die gefallenen Helden verunglimpft, denn sie erinnerte viel zu direkt an den entwürdigenden Umgang mit den getöteten Soldaten, die man nur in Decken gehüllt in langen Reihen neben die Massengräber legte, bevor man sie nackt in die Gruben warf.

1920 wurde auf Anregung des Kurhessischen Kriegervereins der Stadtverordnetenversammlung der Entwurf für eine Kriegergedenkstätte präsentiert. Nachdem sich die Stadtverordnetenversammlung einstimmig für den Sautterschen Entwurf ausgesprochen hatte, erwarb die Stadt das Grundstück des ehemaligen Gartensaals in der Karlsaue. Viele Kasseler Bürger*innen kennen vor allem den Anblick der Treppen inmitten der Terrassengärten und wissen gar nichts von dem Saal, der sich darunter befindet. Doch in diesem spielt sich ein großer Teil der folgenden Ereignisse ab.

Der erste Entwurf Sautters enthielt zunächst die beiden Figuren „Trauer“ und „Hoffnung“, denen die Auftraggeber*inne viel Sympathie entgegen brachten. Vom "Gefallenen" war noch keine Rede. Im endgültigen Entwurf jedoch verschwanden die beiden Figuren. Sie sind heute Teil des "Mahnmals für die Opfer des Faschismus" gegenüber des Elisabethkrankenhauses. Stattdessen sollte allein der "Gefallene" in der Gruft untergebracht werden. Schon bei den ersten Baumaßnahmen des Ehrenmals für die kurhessischen Gefallenen des 1. Weltkrieges regte sich Protest in der Bevölkerung, da für die Umgestaltung der barocke Profilschmuck abgeschlagen und verputzt wurde. Die angespannte Stimmung rund um dieses Projekt wurde auch bei der Einweihungsfeier 1926 mehr als deutlich: Seitens der Stadt befürchtete man, dass die Veranstaltung vom Deutschen Reichskriegerbund und dem Kyffhäuserbund für politische Zwecke missbraucht werden könnte. Deshalb nahm der Magistrat nicht an den Feierlichkeiten teil. Auch die Initiator*innen des Kurhessischen Kriegerbundes verzichteten auf Ansprachen, so dass nur Reden von einem katholischen und einem evangelischen Geistlichen sowie einem Rabbiner gehalten wurden. Sautter selbst saß abseits auf einer Treppe.

Die Wachsbformung von Pina und Via Lewandowsky im Museum für Sepulkralkultur
Die Wachsbformung von Pina und Via Lewandowsky im Museum für Sepulkralkultur
Die documenta-Arbeit: Die Wachsabformung verdeckt die originale Kalkstein-Skulptur
Die documenta-Arbeit: Die Wachsabformung verdeckt die originale Kalkstein-Skulptur
Das Ehrenmal
Das Ehrenmal "Der Gefallene" von Hans Sautter im Gartensaal unter der Treppenanlage

Das Ehrenmal während des NS-Regimes

Schon bald wurde die monumentale Kalksteinskulptur von der Kasseler Bevölkerung als „Spitalsleiche“ und als „Sautterleiche“ tituliert. In einem offenen Leserbrief in der HNA wurde gar die Forderung wurde laut, die gesamte Anlage, den „pazifistischen Dreck“, zu zerstören. Doch so weit wollte man dann doch nicht gehen und die Skulptur samt Anlage durfte bestehen bleiben. 1933 allerdings verschwand der „Gefallene“ unter dem NS-Regime in einer Holzkiste. Die Figur wurde von Teilen der Bevölkerung Kassels als „Schandmal“ empfunden, da ihr die „heldische Größe“ fehlte und nichts an ihr an die „Größe des Fronterlebnisses“ erinnerte, wovon zahlreiche reißerische bis emotionale Zeitungsberichte zeugen. Vor allem der Vergleich des ins (Leichen)tuch geschlagenen, unbewaffneten, wenn auch athletischen Mannes mit wesentlich "heldischeren" Krieger- und Gefallenendenkmälern anderer Städte erregte Unmut. Einen Höhepunkt der Anfeindungen verdeutlicht sicher folgendes Zitat: „Das Denkmal entspricht nicht seinem Zweck, und wie könnte es auch sein, wenn der Verfertiger Marxist oder Pazifist ist und zu einer Klique von Gott sei Dank jetzt endgültig beseitigten ‚Führern‘ der vergangenen unerfreulichen und schmachvollen Epoche gehörte.“ Urheber ist Dr. Blaß, der nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 zum Nachfolger Sautters an der ehemaligen Kunstgewerbeschule wurde, die anschließend den namen „Staatliche Meisterschule für das Deutsche Handwerk" trug. Sautter erhielt nach seiner Absetzung Berufsverbot und wurde mehrmals inhaftiert.

...während des 2. Weltkrieges und bis zur Wende

Während des 2. Weltkrieges wurde der "Gefallene" dann durch einen Bombeneinschlag verschüttet und blieb so bis in die 50er-Jahre unter Steinplatten verborgen. Im Rahmen der Bundesgartenschau 1955 sollte die Treppenanlage dann erneut umgestaltet werden. Und erneut protestierten die Kriegervereine – diesmal allerdings zu Gunsten des Denkmals. War es ihnen vorher zu "pazifistisch", so war es ihnen jetzt doch lieb geworden, denn es enthielt neben dem "Gefallenen" auch diverse Gedenkplaketten, für deren Anbringung sie sorgen konnten. Und Sautter, der natürlich gegen die Vernichtung seines Kunstwerkes protestierte, sah sich plötzlich in Interessengemeinschaft mit Fallschirmjägern und ehemaligen Mitgliedern der Waffen-SS. Der Widerstand hatte Erfolg und die Gedenkstätte blieb und wurde von Schäden befreit. 1955 wurde sie zum zweiten Mal eingeweiht. Die Figur blieb aber weiterhin politisch brisant. Bei Kranzniederlegungen kam es immer wieder zu Gegendemonstrationen von Linken und der Friedensbewegung. In den 60er und 70er Jahren war die monumentale Steinskulptur des "Gefallenen" für den Geschmack der Nachkriegsgesellschaft zu sehr eben eines jener Monumentaldenkmäler, die man als kriegsverherrlichend ablehnte. 1981 wurde sie aussagekräftig mit dem Zitat eines Punkliedes besprüht: No more heros!

...und zur documenta 1992

Als Pina und Via Lewandowsky 1992 ihr Projekt vorstellten, hatten sich die Traditionsverbände, die vorher so sehr gegen ihn gewettert hatten, schon lange mit dem „Gefallenen“ ausgesöhnt. Die Einbeziehung der Gedenkstätte in eine Kunstausstellung empfanden sie allerdings als skandalös. Die Umdefinition des Ehrenmals käme einer Grabschändung gleich. Die Gefallenen würden dadurch „verleumdet, beschimpft und verunglimpft“, was die Angehörigen als barbarisch empfänden. Gegen die künstlerische Aktion wurde sogar eine Klage eingereicht, die aber abgewiesen wurde.

Heute ruht der "Gefallene" friedlich in der Dauerausstellung des Museums. Dorthin wollte das Künstlerduo Lewandowsky es unbedingt haben, sonst hätten sie es zerstört. Vielleicht wollten sie für ihre Wachsfigur, dessen Vorbild so viel durchgemacht hatte, eine Ruhestätte in einem angemessenen, kulturellen Umfeld sicherstellen.

Plaketten an der Außenmauer des Ehrenmals
Plaketten an der Außenmauer des Ehrenmals
Die Skulptur
Die Skulptur "Der Gefallene"
Die Treppenanlage am Rand der Karlsaue
Die Treppenanlage am Rand der Karlsaue
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