Die Unbekannte aus der Seine

"...weil es so täuschend lächelte..."

l‘Inconnue de la Seine, 1920er-/1930er-Jahre
Totenmaske (?) aus Porzellan

Totenmasken sind Gips- oder Wachsabformungen des Antlitzes von Verstorbenen. Sie erhalten die letzten, scheinbar authentischen Gesichtszüge eines Menschen kurz nach dem Ableben. Die Tradition der Totenmaske gehört zu den frühesten Zeugnissen fast aller Kulturen und kommt in allen geografischen Bereichen und in den unterschiedlichsten Formen vor. In manchen Kulturen diente die Totenmaske etwa der Dämonenabwehr. Im Unterschied dazu wurde sie in westlich geprägten Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert meist zum Zweck der Erinnerung und Verehrung angefertigt. Sie waren aber auch hilfreich für die Porträtbildhauerei, wie für Personendarstellungen auf Grabmälern und bei Plastiken. Die eigentliche Blütezeit begann mit dem aufkommenden Geniekult in der Epoche der Aufklärung in Europa. Seitdem erreichte sie wachsende Popularität und Verbreitung. Da überwiegend Totenmasken von politischen Persönlichkeiten, von Denker*innen, Musiker*innen, Künstler*innen und Schriftsteller*innen abgenommen wurden, repräsentierten sie als Zimmerdenkmale die geistige Verbundenheit mit den jeweils Dargestellten. Totenmasken wurden zum Kultobjekt des aufgeklärten Bürgertums.

>> Übrigens:

Asmund S. Laerdal, Entwickler der Hilfe für Mund-zu-Mund-Wiederbelebung, verwendete die Totenmaske der inconnue für seine Rettungspuppe "Anne", die noch immer in Erste-Hilfe-Kursen rund um die Welt Tag für Tag wiederbelebt wird.

Zur Sammlung des Museums für Sepulkralkultur zählen einige Kopien von Totenmasken, wie beispielsweise die von Martin Luther, Friedrich dem Großen, Kaiser Napoleon, die von Ludwig van Beethoven, Friedrich Hebbel und auch die der „Unbekannten aus der Seine“ (frz. l‘Inconnue de la Seine). Mit dieser Totenmaske hat es eine ganz besondere Bewandtnis. Es handelt sich um die Maske einer etwa zwanzigjährigen Frau, die man 1890 in Paris angeblich ertrunken aus der Seine geborgen hatte. Die Totenmaske erwies sich jedoch sehr viel später als Fälschung. Zahlreiche Geschichten und Gerüchte kursierten um diese junge Frau. Eine davon erzählt, ein Bildhauer solle sie im Pariser Leichenschauhaus, der Morgue, entdeckt haben und von ihrer Schönheit, ihrem Gesichtsausdruck und ihrem rätselhaften Lächeln so fasziniert gewesen sein, dass er eine Gipsmaske abnahm. Es war damals üblich, wenn die Identität eines*r Toten nicht geklärt werden konnte, diese*n öffentlich zur Schau zu stellen, in der Hoffnung, jemand erkenne die verstorbene Person. Parallel wurden auch Totenmasken angefertigt, um nach der Beisetzung des Leichnams weiter ermitteln zu können, so wie man heute mit einem Foto nach der Identität und etwaigen Hinweisen zu einem*r Verstorbenen fragt.

Mit der Totenmaske der „Unbekannten aus der Seine“ sollte es anders kommen. Sie wurde vielfältig, in unterschiedlichsten Materialien und Größen, reproduziert, sie ging sogar in Serienproduktion und fand regen Absatz. Es blühte ein regelrechter Kult um den Abdruck dieses Jungmädchen-Kopfes. Es blieb dessen ungeachtet ein Gesicht ohne Lebensspuren. Die Frau hat keinen Namen, keinen sozialen Körper, keine Geschichte. Ein Gesicht voller Rätsel, jung und schön, die Haare im Nacken zusammengefasst, ihre Augen friedlich geschlossen und ihre Lippen zu einem Lächeln erstarrt. Viele Menschen waren fasziniert von diesem Antlitz, es schmückte Wohnungen unzähliger junger Frauen und Künstlerateliers quasi als Ikone. Sie wurde in Paris zu einem beliebten morbiden Einrichtungsaccessoire und bald auch über die Grenzen Frankreichs hinaus. In Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) schreibt Rainer Maria Rilke, „… weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend lächelte, als wüßte es…“. Die Bedeutung ihres Lächelns – es wurde vielfach mit dem Lächeln der Mona Lisa verglichen – war ebenso unergründlich wie die Ursache ihres Todes. Doch wer sie auch war, sie wurde zum Gegenstand zahlreicher Gedichte, Romane und Novellen, wie beispielsweise bei Luis Aragon, Ödön von Horváth (Eine Unbekannte aus der Seine, Komödie von 1933), Alfred Döblin (Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit, Essay 1929), Rainer Maria Rilke, aber auch bildende Künstler*innen und Philosoph*innen haben sich der Unbekannten angenommen. Der Philosoph Maurice Blanchot beschrieb sie als „ein junges Mädchen mit geschlossenen Augen, das jedoch belebt war durch ein so entspanntes, beglücktes Lächeln […], dass man hätte glauben können, sie sei in einem Moment großer Glückseligkeit ins Wasser gegangen.“ Die Archivarin der angeblichen Original-Totenmaske in Paris erzählt, dass es sich um nichts weiter als eine „trés jolie lègende“, eine hübsche Legende handele. Andere Anekdoten behaupten, ein Forscher habe angeblich die Spur bis in eine Hamburger Fabrik verfolgen können, die diese Gipsabdrücke herstellte und so zu Wohlstand gelangt war. Ob es sich nun um die Maske eines ehemals wirklich lebenden Menschen handelt oder um eine frei geschaffene Plastik eines*r unbekannten Bildhauers*in, ausgestattet mit einer unsicheren Entstehungsgeschichte und aus kommerziellen Gründen in Umlauf gebracht, bleibt ungewiss. Allein ein Aspekt ist gewiss und bei dieser Maske von Bedeutung: Es handelt sich um eine Frau. So reiht sie sich ein in die großen kulturhistorischen Themen wie „Der Tod und das Mädchen“ im späten mitteleuropäischen Mittelalter oder der „Kult der schönen Toten“ und der „Wasserleichenpoesie“ im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert.

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